Mutterliebe und böse Stiefmütter in Märchen

Mutterliebe und böse Stiefmütter in Märchen

Kinderwunsch, Stiefmütter und die Pubertät

Böse Stiefmütter sind seit den Märchensammlungen der Romantiker die Antagonisten schlechthin. Erstaunlich ist, dass immer noch relativ wenige wissen, dass diese Stiefmütter in der ersten veröffentlichten Version der Grimmschen Hausmärchen noch leibliche Mütter waren. Neben allerlei Sex und Gewalt war das einer der größten Kritikpunkte an den „Originalmärchen“. Erst ein gründliches Lektorat, das die Märchen kinderfreundlicher machte und die bösen Mütter zu Stiefmüttern, begründete den immensen Erfolg der Grimmschen Märchensammlung, die ungebrochen bis heute anhält. Begründet darin liegt jener Topos, den selbst Kleinkinder verinnerlicht haben: leibliche Mütter sind gut, Stiefmütter sind böse. Ein Vorurteil, das noch immer in unseren Köpfen grassiert und es echten Stiefmüttern nicht gerade leicht macht.

Die gute Mutter lebt nicht lange

Unvorstellbar in einem Buch für Kinder war auch für die romantische Leserschaft, dass die leibliche Mutter ihre Kinder einsperrt, tötet oder aufisst. Also wurde einfach die Mutter getötet, bei der Überarbeitung versteht sich, nicht wirklich. Dabei spielten die leiblichen Mütter selbst eine nicht zu verkennende Rolle in den Märchen. Schneewittchen ist nicht nur ein absolutes Wunschkind, sondern bekommt ihren Namen durch einen Zwischenfall, den ihre Mutter vor ihrer Geburt erlebt. Drei Tropfen Blut im weißen Schnee am Fenster, dessen Rahmen aus Ebenholz geschnitzt ist. Die Geschichte beginnt also bereits vor dem Auftreten der eigentlichen Hauptperson. Ähnlich ist es in einigen Versionen von Dornröschen. Auch bei Aschenputtel steht der Kinderwunsch am Anfang. Hier ist außerdem von Bedeutung, dass die leibliche Mutter im Haselstrauch Verbindung zu ihrer Tochter aufnimmt. Die Mutterliebe, unabhängig vom kurzen Leben als gute Mutter, schafft es, das Kind auch nach dem Muttertod zu schützen.

Aschenputtel

Mutter gegen Tochter

Auffallend ist nicht nur, dass die leiblichen Mütter in den überarbeiteten Fassungen nicht lange ihre Mutterrolle übernehmen können, sondern auch, zu welchem Zeitpunkt das Negativum Stiefmutter auftaucht. Es ist stets die beginnende, frühe Pubertät, die im Raum steht. Die Töchter werden unabsichtlich zu Rivalinnen der Mutter. Nirgends ist das deutlicher dargebracht als bei Schneewittchen. Die Entwicklung des Mädchens zur Frau bringt die alternde Königin in Bedrängnis. Alter gegen Jugend. Neue Schönheit gegen die, die sorgsam gepflegt werden muss. Unschuld gegen die Mörderin. Man kann den Romantikern viel vorwerfen, Psychologisierung war ganz ihr Metier. Die rein gute Mutter stirbt früh und wird durch die negative ersetzt, die der Entwicklung des Mädchens zur Frau entgegensteht.

Die böse Stieftochter

Dabei ist es ein leichtes, den Spieß einfach umzudrehen. Aschenputtel widersetzt sich mehrmals den Regeln der Stiefmutter. Sie erledigt ihre Arbeit nicht selbst und hat es scheinbar nicht so mit Reinlichkeit. Dornröschen hält sich genauso wenig an Regeln. Sie geht den verbotenen Turm hinauf, spricht mit einer Fremden und spielt mit Dingen, von denen sie keine Ahnung hat. Auch eine Tochter, die sich vor allem durch Schönheit auszeichnet, kann einer Mutter Sorgen machen, gerade am Hofe, wo sich nicht nur Edelmänner rumtreiben. Als dreifache Mutter möchte ich bei diesem Perspektivenwechsel immer den Kopf schütteln, ein „Ach ja, Kinder“ vor mich hinmurmeln und mit den Brüdern Grimm grollen, die als Romantiker nur Extreme kannten.

 

von Eva-Maria Obermann

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