Von der Liebe zu sich selbst und zueinander

Von der Liebe zu sich selbst und zueinander

»Wer sich selbst nicht liebt, kann auch niemand anderen lieben« ist eine dieser Binsenwahrheiten, die uns heutzutage oft begleiten. In Märchen spielt Selbstliebe eigentlich so gut wie keine Rolle. Die Figuren sind so gefestigt in ihrer Rolle, dass sie zwar vor bösen Stiefmüttern, gefräßigen Wölfen und fiesen Betrügern fliehen, aber nie an sich selbst zweifeln. Daher steht der großen Liebe auch außer äußeren Umständen nichts im Weg.

Selbsthass in der Realität

In der Realität sieht das Ganze ein wenig anders aus. Als Menschen zweifeln wir eigentlich viel zu oft. Jeder einzelne von uns hat Ängste, Befürchtungen und manchmal sogar einen Funken Selbsthass. Sei es, weil uns nicht gefällt, was wir im Spiegel sehen, weil wir nicht genug Anerkennung von anderen bekommen oder weil wir einfach nicht diesen hässlichen Charakterzug loswerden, den wir eigentlich gar nicht nötig hätten. Kein Mensch ist fehlerfrei und das ist auch gut so.

Bedenklich wird es jedoch erst, wenn der Selbsthass überwiegt. Wie können wir jemand anderem Liebe schenken oder Liebe erwarten, wenn wir uns selbst verleugnen, uns selbst nicht im Spiegel ertragen oder nicht daran glauben, jemals einem anderen gerecht werden zu können? Auch wenn die Märchen von einst dieses Thema nicht verarbeiten, finden sich Selbstzweifel in fast jedem zeitgenössischen Roman, auch in Märchenadaptionen. Sich selbst zu überwinden, an seinen Fehlern und Zweifeln zu wachsen, ist ein essentieller Bestandteil jedes modernen Märchens. Es sind Geschichten, die den Weg zur Selbstliebe thematisieren.

Selbstliebe als Thema in der Märchenspinnerei

Im »Axolotlkönig« muss Leonie lernen, dass sie, so wie sie ist, vollkommen in Ordnung ist. In »Hollerbrunn« kämpft Pegg um die Anerkennung durch ihre Schwester und muss doch selbst den ersten Schritt gehen. In keiner anderen Adaption der Märchenspinnerei wird der Weg zur Selbstliebe jedoch so thematisiert wie »Im Bann der zertanzten Schuhe« von Janna Ruth.

»Das DeModie ist nichts anderes als die Unterwelt. Wunderbarer Ort der Träume und Wünsche und letzter Halt der verlorenen Seelen.«

»Im Bann der zertanzten Schuhe« erzählt die Geschichte von zwei solch verlorenen Seelen, Jonas und Sophie. Während sich zwischen ihnen eine sanfte, doch tiefe Liebe entwickelt, geht es vor allem darum, dass die beiden lernen, sich selbst zu verzeihen und zu lieben.

Der Weg von Jonas und Sophie

Jonas kämpft mit den Erinnerungen, die er aus seinem Frontdienst in Afghanistan mitgebracht hat. Jede Nacht hat er Albträume, während ihn die Erinnerungen auch tagsüber überfallen. Egal, wie sehr er es versucht, der Krieg holt ihn immer wieder ein und hindert ihn daran, ein normales Leben zu führen. Jeden Tag kämpft er aufs Neue um jedes bisschen Normalität und ist sich selbst sein größter Gegner. Er ist der erste, der sich die Schuld gibt, und der erste, der sich zurückzieht.

»Ich habe das Gefühl, als wäre ich aus dem Krieg als jemand anderes heimgekommen. Als wäre ich nicht mehr der Jonas, den sie kennen.«

Sophie wirkt im ersten Moment ganz anders als Jonas. Sie ist lebensfroh, lacht gerne und geht jede Nacht mit ihren Freundinnen tanzen. Als Jonas sie kennenlernt, verliebt er sich in genau dieses Lachen. Doch er muss schnell feststellen, dass Sophie all das nur nutzt, um sich nicht ihren zerbrochenen Träumen stellen zu müssen. Einst wollte sie Primaballerina werden, doch seit ihre Mutter gestorben ist, hat sie keine Bühne mehr betreten. Stattdessen flüchtet sie sich in den nächtlichen Tanz und anderer Leute Probleme.

Es war Jahre her gewesen, dass sie diesen Traum gehabt hatte. »Mach ich nicht.« Der Traum war mit ihrer Mutter gestorben.

Im ersten Moment klammern sich Sophie und Jonas regelrecht aneinander, Jonas mehr als Sophie. Vom ersten Augenblick an ist Jonas in sie verliebt. Dabei stellt er die Angebetete jedoch auf einen Sockel, dem Sophie einfach nicht gerecht werden kann. Egal, wie sehr Jonas sich bemüht, die Augen zu verschließen.

Er brauchte sie, brauchte sie so sehr, wie er noch nie jemanden gebraucht hatte. Nur um zu wissen, dass er noch am Leben war.

Sophies Liebe zu Jonas entwickelt sich ganz langsam und sacht. So sacht, dass es ihr selbst gar nicht bewusst ist. Stattdessen projiziert sie fast ebenso besessen wie er, ihre Liebe und all ihre Hoffnung auf Luca, den geheimnisvollen Prinzen, den sie mit ihren nächtlichen Tänzen zu befreien sucht. Für dessen Fehler ist Sophie völlig blind, da sie sich vollkommen in ihrer Aufgabe aufgibt. Es braucht Jonas stete Herausforderung, bis Sophie sich klar wird, was ihr wirklich fehlt.

Jonas kannte sie wie kein anderer. Vom ersten Tag an hatte er geradewegs hinter ihre Fassade gesehen, ihren Schmerz zu seinem gemacht und versucht zu richten, was sie nicht richten wollte.

Beide Figuren müssen sich selbst überwinden und lernen, sich erst einmal ganz alleine ihren Problemen zu stellen, damit ihre Liebe überhaupt eine Chance hat, sich zu entfalten. Verglichen mit anderen Romanzen mag einen »Im Bann der zertanzten Schuhe« etwas entschleunigter vorkommen. Es ist eher eine sanfte tiefe Liebe statt einer leidenschaftlichen Romanze. Dabei ist die eigentliche Liebesgeschichte die der Figuren zu sich selbst. Damit sie eines Tages wahrlich jemand anderen lieben und ihr Märchenende finden können.

Sie überlegte kurz, ob sie [die Schuhe] ausziehen sollte, aber dafür fühlten sie sich zu gut an. Nicht so hart und unnachgiebig wie die neuen, die auf jede wunde Stelle drückten. Diese Schuhe hatten dieselben Macken wie sie. Sie gehörten zu ihr.

Von Janna Ruth

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