Russische Märchen und die Liebe

Russische Märchen und die Liebe

Ich bin mit Märchen aus Russland aufgewachsen. Russische Märchen besitzen ein ganz besonderes Muster, das mich schon immer fasziniert hat: Das Happy End wird vom Mann erst verwirkt, dann verdient. In „Zar Saltan“, der Vorlage zu meiner eigenen Adaption, funktioniert es im Detail einen Ticken anders, doch die Grundstruktur ist dieselbe.

 

Wie läuft das in der Regel ab?

In „Die Froschkönigin“ kann man es besonders klar erkennen. Dort müssen drei Brüder Pfeile verschießen – und dort, wo die Pfeile auftreffen, warten auch ihre Frauen auf sie. Natürlich landet der Pfeil des Jüngsten im Sumpf neben einem Frosch. So wird er gezwungen, selbigen als seine Ehefrau nach Hause zu führen.

Doch das Fröschlein erweist sich als gewitzt. Welche Aufgabe auch immer der Zar seinen Schwiegertöchtern stellt, das Fröschlein erledigt sie immer am besten. Dazu streift es die Froschhaut ab, verwandelt sich in eine schöne und zauberkundige Prinzessin und tut, was getan werden muss.

Alles könnte wundervoll sein – wenn nur der Prinz die Froschhaut während eines Festes nicht verbrennen würde. Dadurch ist ihre nahende Erlösung von dem Leben als Gestaltwandlerin in weite Ferne gerückt. Sie gibt ihm noch mit auf den Weg, wo er sie findet und was er dazu tun muss, dann verschwindet sie. Damit beginnt der zweite Teil des Märchens. Der Teil, in dem der Prinz sich die Liebe der Prinzessin verdienen muss, nachdem er sie auf so leichtfertige Weise verspielt hat.

Wichtig ist hier: Zuerst liebt der Prinz seine Frau nicht. Erst, als sie ihn mit ihren inneren Werten (im Märchen durch ihr Können im Tanzen, Brotbacken, Kleider herstellen symbolisiert) davon überzeugt, dass sie nicht nur das Aussehen eines Frosches zu bieten hat, lernt er, sie zu mögen. Als er seinerseits dann ihre Zuneigung verspielt, muss er um ihre Liebe kämpfen.

 

Und wie ist das bei Zar Saltan?

In „Zar Saltan“ ist das Prinzip weniger deutlich. Hier äußern drei Mädchen, was sie tun würden, wenn sie Zarin wären und der zufällig vorbeikommende und lauschende Zar wählt die aus, die ihm einen Heldensohn verspricht. Er muss sich nicht um ihre Zuneigung bemühen, denn sie hat kein Recht auf Widerworte und folgt ihm demütig in sein Schloss und in sein Bett. Doch der Zar wird dafür bestraft, seine Frau für selbstverständlich zu nehmen. Die Intrige ihrer fiesen Schwestern sorgt dafür, dass sowohl Zarin als auch ihr Sohn in einem Fass ins Meer geworfen werden. Hier ist es die zweite Generation – der Sohn -, der dafür sorgen muss, dass Mutter und Vater wieder zueinander finden. Er ist es, der mit seinen Heldentaten dafür sorgt, dass der Zar auf seine Insel gelockt wird und dort die Mutter in die Arme schließen kann.

Wichtig ist hier: Es handelt sich nicht um das Happy End für das Paar, sondern um das Happy End für den Knaben, dessen Familie durch Widrigkeiten auseinandergerissen wurde. Das Hauptaugenmerk liegt also weniger auf der romantischen Liebe zweier Menschen, sondern auf dem Zusammenfügen einer zerbrochenen Familie. (Wenngleich es durchaus sein kann, dass der Zar aufrichtig verliebt war und die junge Frau sich mit dem Schicksal arrangiert hat, das aus ihrer unbedachten Äußerung entsprungen ist.) Auch hier muss sich der Knabe sein Happy End einer glücklichen Familie (und einer schönen, zauberkundigen Frau dazu) verdienen. Er rettet die Schwanenprinzessin vor ihren Peinigern und erhält so den Zugriff auf ihre Magie. Und er fliegt dreimal als Hummel zum Palast seines Vaters – eine nicht ungefährliche Reise.

 

Russische Märchen und ich

Nach diesem Muster habe ich selbst im Alter von elf Jahren ein Märchen geschrieben, bei dem ein Kaufmann den Gesang einer Göttertochter so lieblich fand, dass er sie rauben musste. Als er sie jedoch nach ihrem Namen fragt, löst er damit einen Fluch aus und bekommt die Queste, sie zu suchen. Dabei gibt sie ihm, ähnlich wie die Froschkönigin im Märchen, drei Hinweise:

  1. Nicht in der Luft, nicht auf dem Land, nicht unter Wasser suche mich.
  2. Zwischen Glück und Unglück finde mich.
  3. Such dir Freunde, doch nicht bei den Menschen.

Es sind in der Folge dann einige hilfreiche Tiere, die ihn zu seiner Frau führen. Diese hat im Mittelpunkt der Erde auf einer Kugel gesessen und auf ihn gewartet. Ja, ich weiß, Logik. Aber ich war elf, man möge mir verzeihen. 😀

In meiner Adaption „Zarin Saltan“ wollte ich, dass beide Teile des Ehepaares sich ihr Glück verdienen müssen, nachdem sie sich auseinanderreißen lassen. Mir hat es also nicht gereicht, nur dem Mann eine Queste zu geben. Auch Anna muss aktiv werden, um die Wiedervereinigung mit Viktor zu ermöglichen.

Wenn man sich aneinander gewöhnt, wird man sich schon lieben

Natürlich könnte man noch einige Dinge aus den alten Märchen herausinterpretieren. Gerade bei der „Froschkönigin“ ist es ein wichtiges Motiv, dass die jungen Männer ihre Frauen zugewiesen bekommen – und sich anschließend mit ihnen zu arrangieren haben. Da ist es mit der Liebe oft nicht weit her. Aber nicht umsonst gibt es im Russischen bis heute das Sprichwort „Wenn man sich aneinander gewöhnt, wird man sich schon (irgendwie) lieben“. Im Original kurz und prägnant: Стерпица-слюбица (sterpitza, slübitza – keine wissenschaftliche Notation, nur die Aussprache). Arrangierte Ehen und entsprechend eingesetzte Kupplerinnen waren in Russland früher Gang und Gebe – und sind auch jetzt wieder im Kommen. Da besteht das Happy End einer Liebesgeschichte darin,  dass zwei vom Schicksal aneinander Gebundene die Liebe finden. Im Fokus steht somit nicht, wie z.B. bei „Aschenputtel“, dass zwei Verliebte sich finden.

Auch das Gestaltwandlermotiv findet sich ähnlich beispielsweise beim französischen Märchen „Bisclavret“. Dort wird der Mann durch den Verrat gezwungen, für immer ein Werwolf zu bleiben. Hakon IV. von Norwegen hat unter anderem das Märchen von Bisclavret ins Alt-Nordische übersetzen (und musikalisch adaptieren) lassen, vielleicht kam das Grundmotiv der Geschichte so nach Russland?

 

Wie bereits erwähnt, haben viele russische Märchen eines gemeinsam: Der Prinz muss sich seine Prinzessin und ihre Liebe verdienen. Egal, wie er überhaupt an eine rangekommen ist.

 

Von Katherina Ushachov

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2 Gedanken zu „Russische Märchen und die Liebe

  1. Spannende Beobachtungen! Mir fällt da eine Parallele zur Dippelwegstruktur der Artusepik auf. Auch da muss der Ritter das gerade gewonnene (Ruhm, Frau, Ansehen) neu verdienen, nachfem es ihm durch einen Fehler seinerseits wieder genommen wurde. Erst âventiure und Läuterung bringen den Ritter zurück zu seinem Ziel.

    Und noch eine Parallele gibt es: Auch im Artusroman ist fast immer der Mann die handelnde Figur. Schön also, dass du das Muster etwas aufbrichst.

    1. Das ist sehr spannend – und überrascht mich nicht. Ich komme ja aus der Komparatistik und dort wird über den Tellerrand der Kulturen und Textsorten geschaut, das liebe ich sehr an der ganzen Sache.

      Kulturen kommunizieren immer miteinander, Textsorten beeinflussen einander. Ich habe den Zusammenhang mit mittelalterlichen Lais hergestellt, dass auch die Artusepik eine ähnliche Struktur aufgreift, finde ich aber faszinierend und ist für mich ein Grund, mich ein weiteres Mal damit zu beschäftigen.

      Danke auf alle Fälle für den Kommentar, in die Richtung forsche ich mal weiter :D.

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