Vorurteile und Schubladendenken in Märchen

Vorurteile und Schubladendenken in Märchen

Märchen zeigen eine schöne, friedliche Welt, immerhin liest man die Geschichten ja sogar bevorzugt Kindern vor. Da müssen die doch alle nett und hübsch sein, oder?

In Märchen geht es nicht immer nur um Ballkleider, tapfere Prinzen und magische Fügungen, die den armen Protagonisten ihr schwieriges Leben erleichtern. Märchen verpacken, neben der Unterhaltung, oft auch eine Moralgeschichte.

Ich beschäftige mich in diesem Beitrag insbesondere mit dem Phänomen der Vorurteile, die sehr häufig in Märchen verarbeitet werden. Vom einfachen Schubladen- bis zum ganz klaren Klassendenken.

 

Die Schubladen

In vielen Märchen findet man die direkte Unterscheidung in „gut“ und „böse“, „hässlich“ und „schön“. Schwarzweiß-Malerei, die grundsätzlich erst einmal vermutlich der Vereinfachung dienen soll. Immerhin kann man einem Kind ja kaum erklären, dass auch ein Bösewicht Gründe haben kann, und das „gut“ oder „böse“ häufig eine Frage des Blickwinkels ist.

Ähnlich ist das auch bei „hässlich“ und „schön“. Die als hässlich abgestempelten Wesen passen häufig nur einfach nicht in das begrenzte Weltbild ihrer Umgebung (Zwergnase, das hässliche Entlein, der kleine Muck). Grundsätzlich wird aber erst einmal der Stempel: „Hässlich gleich verachtenswert“ vergeben. In manchen Märchen geht man sogar so weit, furchtbare Gräueltaten zu begehen, um die Schönheit zu erlangen (z.b. Schneewittchen).

Als weitere Schubladen findet man in Märchen Gegensatzpaare wie „arm & reich“, „faul & fleißig“, „schlau & dumm“. Eine einzige Eigenschaft aus diesen Gegensatzpaaren entscheidet häufig über das gesamte Schicksal einer Person. Die Kernaussagen sind dabei Dinge wie: „Sei fleißig, dann wirst du belohnt“ (mit Gold übergossen), „sei faul und du wirst bestraft“ (mit Pech überzogen). Ob die arme Pechmarie nun für ihre Zeit einfach nur unübliche Interessen hatte und sich vielleicht lieber mit anderen Dingen als Putzen beschäftigte, wird nicht behandelt.

 

Die Last der Vorurteile vs. der ideale Mensch

Die Märchen zeichnen damit ein ganz klares Bild des idealen Menschen, das sich auch sofort auf die Leser überträgt. Überspitzt formuliert: Nur schöne, liebe, fleißige und schlaue Menschen (nach der jeweiligen vorherrschenden Meinung) sind achtenswert.

Nach diesem Bild sind dann natürlich auch die Figurenbeschreibungen angelegt: Junge Mädchen sind immer schön und lieb. Der faule/dumme Sohn erbt nichts. Die Hexe ist immer hässlich, alt und natürlich böse, Stiefmütter erst recht.

Damit ist schon klar vorgezeichnet: Nach unseren festgelegten Schubladen gibt es fixe Funktionen, die absolut immer bestimmte Eigenschaften haben. Damit haben auch die Figuren in meinem Roman „Leuchtendschwarzer Rabenmond„, einer Adaption des Märchens „Die sieben Raben“, zu kämpfen.

Maerchenkulisse

Das Klassendenken

Zu guter Letzt, das Klassendenken. Es findet sich in fast allen Märchen und bringt immer eine gewisse Wertigkeit mit.

Der Schwan ist als erwachsenes Entlein ein besseres Wesen geworden als seine hämischen Geschwister. Der Kaiser trägt Kleider, die nur reine Menschen sehen können, und hält allen anderen damit ihre Sünden vor. Auch wenn das natürlich aufgelöst wird, ist die Grundaussage doch, dass der Kaiser sich über die Sünder zu stellen versucht. Immerhin kann er selbst seine Kleider ja angeblich sehen. Die Prinzessin will auf gar keinen Fall den armen, dreckigen Spielmann heiraten, weil er unter ihrem Niveau ist, und so weiter.

Die Märchen schaffen also eine sehr geordnete kleine Welt, in der sie funktionieren. Es sind klare, unverrückbare Strukturen, die vermittelt und beschrieben werden. Manchmal werden sogar abscheuliche Gemeinheiten der Figuren einfach auf eine ihr irgendwie zugeordnete Schublade geschoben (die Hexe ist nun mal böse, natürlich brät sie Kinder im Backofen). So, dass alles in allem eine recht einseitige, begrenzte Sicht auf die Vorkommnisse gezeigt wird und auf den ersten Blick sehr klar ist, wer im Gerechtigkeitsgefühl des Lesers „zu gewinnen“ hat.

 

Und wie sieht das heute aus?

Natürlich sind Märchen trotz allem häufig auch wunderschöne, märchenhafte Geschichten. Sie entführen uns gelegentlich in andere Welten und andere Zeiten und berichten von fremden, längst vergangenen Zeiten. Vielleicht nur eben nicht immer, wie oben aufgezeigt, für uns noch ganz zeitgemäß in ihren Moralvorstellungen. Das wiederum gibt uns „modernen“ Autoren die Möglichkeit, den Zauber und die Schönheit einer Märchenwelt mit Aktualität zu füllen, differenzierter zu betrachten und uns weg von den alten Schubladen und Vorurteilen auf neue Wege zu begeben. Auch mit den alten Geschichten im Gepäck, die fast jeder kennt und die für fast jeden von uns auch irgendwie Kindheit bedeuten. Dieses Spiel mit dem leicht nostalgischen Gefühl, wieder Kind zu sein und eine Geschichte doch komplett neu mit modernisierten Blickwinkeln und annahmen zu erzählen, ist, in meinen Augen, die wichtigste Aufgabe einer gelungenen Märchenadaption.

 

Von Valentina Kramer

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