Patchworkfamilie
„Patchworkfamilie“ ist ein moderner Begriff für „zusammengestückelte“ Familien. Dabei ist die Problematik uralt: Schon immer sind Familienmitglieder „weggefallen“ und die Familien wurden neu zusammengestellt. Nur der Grund des „Wegfallens“ hat sich geändert. Heutzutage sind es meist Trennungen, die zur Auflösung der Familie führen. Früher war es der Tod durch die drei Ks: Krieg, Krankheit, Kindbettfieber.
Das ursprünglich abwertend gemeinte Patchwork (= nicht passendes, „konnte sich wohl nix neues leisten“) hat im Laufe der letzten Jahre eine Umdeutung erfahren. Patchwork meint Kreativität, Ideenreichtum, kurz, die Eigenschaften, die man in einer Familie, vor allem in einer Patchworkfamilie, braucht.
In meiner Märchenadaption „Hollerbrunn“ gibt es eine Patchworkfamilie, die diesen Titel nicht verdient. Sie wäre eine Beleidigung für jeden Patchworkteppich. Jedes Element, jedes Familienmitglied ist total unterschiedlich und diese Familie passt einfach nicht zusammen. Tim, der Vater, hat zwei Mädchen von zwei Frauen. Von den Müttern, der mondänen Desiree und der ländlichen Heidrun, hat er eine geheiratet, ist aber mit beiden zusammengeblieben. Die Mädchen sind sechzehn Jahre alt, als Heidrun stirbt. Und Tim tut das, was seit Jahrhunderten gemacht wird: er bringt die andere Frau, Desiree, ins Haus.
Warum ist das so ein Problem?
Jeder Mensch hat Bedürfnisse, solche ganz allgemeinen Sachen wie Sicherheit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit, Liebe.
Vor allem Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um diese Bedürfnisse gesund zu entwickeln und zu artikulieren. Bei der Bildung einer Patchworkfamilie muss man ganz besonders darauf achten, dass diese Bedürfnisse aller Beteiligten, aber besonders die der Kinder, nicht unter die Räder geraten. Und genau das geht im Hollerbrunn spektakulär schief. Wir haben eine Patchworkfamilie mit einer Mutter, die eigentlich in die Stadt gehört und das Leben im Dorf hasst, eine Stieftochter, die gerade erst ihre Mutter verloren hat, und jetzt die Stiefmutter vorgesetzt bekam (von der sie vorher immer nur Schlechtes gehört hat), eine Stiefschwester, die das Landleben hasst und von allen gemieden und gemobbt wird, weil sie nicht „hier her gehört“ und einen Vater, der sich das alles so schön vorgestellt hat und jetzt statt einer heilen Familie ein heilloses Chaos vor sich hat.
Der Hass zwischen den einzelnen Parteien ist mit den Händen greifbar, und viele Leser sagen spontan: „einzige Lösung, die müssen sich trennen.“ Aber das ist nicht die einzige Lösung, es gibt noch eine andere: man muss miteinander reden.
Die einzelnen Mitglieder müssen ihre Bedürfnisse und ihren Schmerz ausdrücken lernen. Eigentlich ist das der Job der Eltern, das zu gewährleisten, aber in diesem Fall sind es die Mädchen selbst, die ihr Leben in die Hand nehmen und beginnen, einander zu verstehen.
Und genau darin liegt die große Chance für Patchworkfamilien. Es gibt in jeder Familie Dynamiken, und seien wir ehrlich: nicht alle sind gesund. Manche haben sich über die Jahre etabliert, manche haben sich einfach entwickelt. Ein Patchwork bricht das auf. Alle Werte, alle Regeln stehen auf dem Prüfstand, und je nachdem, wie man damit umgeht, kann sogar eine bessere, gesündere Familie für alle Beteiligten daraus werden.
Von Tina Skupin