Der schmale Grat zwischen Liebe und Hass
Am Ende des Märchens ist alles gut. Die Liebenden haben zusammengefunden und wenn sie nicht gestorben sind, müssen sie verdammt alt irgendwo glücklich und vielleicht leicht senil lächelnd in der Gegend rumsitzen. Hach, wie schön. Dabei sind ihre Geschichten oft von Hass gezeichnet, von drastischen Gefühlsumbrüchen und erst am Ende steht irgendwo die große Liebe, das glückliche Ende. Viele Beziehungen werden in Märchen mit einem tiefen negativen Gefühl belegt. Große Angst, wo einst große Liebe war oder werden soll, Abscheu, Verzweiflung. Genauso oft ist es nur ein Moment, der dazwischen steht. Ein schmaler Grat zwischen Liebe und Hass.
Der Moment
Ausschlaggebend für diese feine Grenze ist die Annahme, dass ein Augenblick reicht, um alles zu ändern. Als der Spiegel der Königin eines morgens erzählt, dass Schneewittchen tausendmal schöner sei als sie, verschwindet jeglicher potentiell positiver Gedanke der (Stief)Tochter gegenüber. Der König bei Allerleirauh braucht dagegen nur einen Blick, um zu erkennen, dass seine Tochter der verstorbenen Frau zum Verwechseln ähnlich sieht. Schon will er sie an seiner Seite wissen. Eine ungesunde Liebe ist das, die bei der Tochter so große Angst hervorruft, dass sie vor dem Vater flieht. Ein Augenblick und sowohl Schneewittchens Königin als auch Allerleirauhs Vater waren regelrecht von Sinnen. Die Vorstellung, dass ein Moment magische Wirkung hat und alles erhellen, aber auch verdunklen kann, ist nicht allein „romantisch“. Die Bedeutung des Augenblicks lässt sich bereits in antiken Dramen erkennen. Im Märchen sind Liebe, Hass und Wahnsinn auf den richtigen Blick allerdings Dauerprogramm.
Extreme Gefühle
Diese großen, absoluten Sprünge verdankt die Gefühlswelt der Märchen der Romantik, die von Extremen gezehrt hat. Das Himmelhochjauchzend und Zutodebetrübt der Empfindsamkeit wurde nahezu wortwörtlich nachgezeichnet. Große Gefühle, unstillbare Sehnsucht, fast scheint es, die Romantik wäre ein endloser YA-Roman, zumindest in der Literatur. Eichendorff beispielsweise hat das nicht nur in seiner Lyrik aufgegriffen. In seiner Novelle „Die Zauberei im Herbste“ ist es die große Liebe zweier Männer zu einer Frau, die Konflikte auslöst. Während einer der Männer die Frau heiratet, ist der andere im Wald verschollen. Er glaubt, den Freund umgebracht zu haben, und erlebt immer wieder die Zerrissenheit zwischen großer Liebe und Hass auf den besten Freund. Noch deutlicher werden die extremen Gefühlsausbrüche bei ETA Hoffmann, in dessen Sandmann Nathanael nicht nur die Liebe auf den richtigen Blick erfährt, sondern auch die Todesangst durch eine Bedrohung, von der der Leser nie genau weiß, ob sie wirklich ist.
Quak mich nicht an
Im Märchen wird der Umschwung von Hass auf Liebe am schönsten im Froschkönig gezeigt. Nein, nicht in der kitschigen Variante, in der die Prinzessin einen Frosch in ihrem Schlafzimmer küsst (diese Variante ist wesentlich jünger als das „Original“), sondern die, in der sie ihn mit Schmackes gegen die Wand pfeffert. Hass. Die Prinzessin hasst dieses glitschige Ding, das ihr zwar ihre Lieblingskugel wiedergebracht hat, sie aber dann vor dem gesamten Hofstaat und ihrem Vater bloßgestellt hat. Der Frosch hat sie nicht nur in eine furchtbar peinliche Lage gebracht, sondern ihr auch noch das Abendessen verdorben. Die Prinzessin hasst dieses Ding und will es beseitigen. Kaum aber, dass sie dem extremen Gefühl nachgibt, verwandelt er sich in einen hübschen Prinzen. Ein Augenblick, ein Moment des Erkennens, schon verliebt sie sich. Liebe und Hass sind manchmal nur einen Froschwurf voneinander entfernt, vor allem im Märchen.