Schwestern – Liebe und Hass
Nirgendwo in der Familie liegt Liebe und Hass näher beieinander als bei Geschwistern. „Wie Hund und Katze“, „gönnen sich das Schwarze nicht unterm Fingernagel“, so werden sie beschrieben, aber, wehe, jemand wendet sich gegen sie. Dann halten sie zusammen, ohne Wenn und Aber.
Niemand kennt die eigene Situation so gut wie die Geschwister. Das Elternhaus, das einen so formt, haben sie selbst erlebt, während alle anderen, Freunde, Bekannte, es nur aus Erzählungen kennen. Gleichzeitig konkurrieren Geschwister, um alles: um das bessere Zimmer, das letzte Eis, die Aufmerksamkeit der Eltern. Und selbst, wenn man die besten Eltern hat, die darauf achten, gerecht zu sein und sich bemühen, den Kindern die Wichtigkeit des Teilens zu vermitteln, ist da auch noch der Altersunterschied. Ein zehnjähriges Kind darf andere Sachen als ein vierjähriges, auf das vierjährige wird anders geachtet, was beide als fundamental unfair empfinden. (Fragt nur mal meine sechs Jahre ältere Schwester.)
Forschung zu Geschwisterbeziehungen
Die Forschung hat herausgefunden, dass die Konkurrenz bei Bruder und Schwester weniger stark ausgeprägt ist. Hat man dagegen Bruder und Bruder, oder nur Schwestern, dann hollah die Waldfee! Konkurrenz! Immer! Zu jeder Zeit! Du lebst mit deinem schlimmsten Kritiker Wand an Wand, und das, während man aufwächst und sich eigentlich erst zu demjenigen entwickelt, der man später sein wird. Alles wird verglichen: der eigene Körper, die Zensuren, die Größe der Geschenke. Hat die andere etwa mehr? Ist sie etwa besser? Dann ist die Frustration nicht weit. Es ist ein ständiger Balanceakt, auch für die Eltern: Wie weit mischen sie sich ein? Was dürfen die Mädels unter sich selbst ausmachen? Dazu kommen die traditionellen Rollenbilder. Während Brüder ihre Differenzen oft körperlich austragen, und es dann schon mal ruppig werden kann, wird Mädchen oft jegliche Aggressivität verboten. Die suchen sich dann einen anderen Weg. Hinter dem Rücken lästern, schlechtmachen, und all die anderen überflüssigen Arten, der Wut Ausdruck zu verleihen. Unsere Schwestern sind oft die, die unsere allerhässlichsten Seiten gesehen haben.
Märchenschwestern
Auch in den Märchen finden sich diese Motive wieder: Bruder und Schwester arbeiten zusammen, so wie z.b. Hänsel und Gretel. Mehrere Brüder stehen immer in Konkurrenz zueinander, und es ist jedes Mal der dritte Bruder, der dritte Sohn, der da Erfolg hat, wo seine großen Brüder gescheitert sind. Was Schwestern betrifft: die kämpfen weniger offen gegeneinander, doch wo Brüder sich meist versöhnen, steht jede Schwester für sich alleine. Die böse Stiefschwestern vertragen sich nicht mit Aschenputtel. Goldmarie und Pechmarie sind Feindinnen. Die Linien sind klar gezogen, es gibt nur die Gute und die Böse. Und die Gute wird belohnt, die Böse bestraft, oft ohne Chance auf Reue oder Besserung. (In den traditionellen Märchen werden die Stiefschwestern meist mit einem so schmerzhaften Tod bestraft, dass man sich fragen muss, wie gut „die Guten“ tatsächlich sind).
Erst in den letzten Jahren, und mit neueren, moderneren Versionen der Märchen hat sich das Bild von Schwestern gewandelt, vor allem durch Disney (zum Guten wie zum Schlechten), und die archetypischen Schwestern wurden richtige Figuren. Auch bei meiner eigenen Adaption „Hollerbrunn“ spielen zwei Schwestern eine bedeutsame Rolle. Es war mir sehr wichtig, zu zeigen, dass die „gute“ Marie falsche Entscheidungen treffen kann, die dazu führen, dass sie unfair und fast böse handelt, während die „böse und faule“ Pegg heldenhaft und gut sein kann.
Märchenschwestern sind wie richtige Schwestern
Märchen sind wichtig für unsere Identität, aber sie müssen sich weiterentwickeln. Diese Entwicklung, Schwestern endlich dreidimensionale Persönlichkeiten und komplexe Beziehungen zuzugestehen, finde ich durchweg positiv. Denn Schwestern sind nicht nur Feindinnen. Gleichzeitig lieben sie sich heiß und innig. Während die Eltern meistens keine Zeit haben, ist immer jemand für dich da. Nur eine Schwester versteht, wie unfair die Eltern wirklich waren. Man ist nicht allein, man hat immer eine Verbündete. Und ganz oft hält diese Verbindung ein ganzes Leben! Man zieht aus, man verlässt das Land. Aber kaum sieht man sich wieder, frotzelt man über die Schwächen des anderen, streitet um das letzte Eis, und hält dem anderen den Rücken frei. Egal ob mit vier – oder mit vierzig!
Von Tina Skupin