Märchensommer Rallye 2019
Willkommen zu Runde 4 der Märchenrallye 2019 des Märchensommers von PoiSonPaiNter!
(Dies ist allerdings nicht der Startbeitrag der Runde, solltet ihr den Anfang suchen, den findet ihr hier.)
Ansonsten seid ihr herzlich eingeladen, euch mit uns auf eine kurze märchenhafte Reise zu begeben, an deren Ende ihr die Märchenfrage dieser Station findet. Es haben sich nämlich eine ganze Reihe von Märchenspinnerinnen zusammengetan und für eine Geschichte der etwas anderen Art verfasst … doch lest selbst. 🙂
Die Figuren erwachen
Prolog
Es ist dunkel in der Schreibstube. Die Mönche, die das Scriptorium normalerweise bevölkern, sind längst in ihren Schlafzellen. Auf einem unordentlichen Stapel Papier trocknet ein Tintenfleck ein. Ein Federkiel liegt quer darüber, so, als wolle er die Blätter daran hindern, einfach abzuhauen. Die Blätter – oder etwas anderes?
Durch die feuchtkalte Nachtluft dringt ein Laut. Die Glocken der fernen Necromoniums verkünden die Mitte der Nacht.
Mitternacht. Geisterstunde.
Ein feiner grauer, rauchartiger Faden beginnt aus den Seiten des Papierstapels zu quellen. Er wächst, wird dichter, beginnt sich zu formen.
I.
Eine junge Frau wird sichtbar, dunkles, lockiges Haar, reichverzierte, locker fallende, weite Kleidung, Ringe an sämtlichen Fingern und eine mit trotz des schwachen Lichts sichtbar funkelnden Steinen besetzte, schwere goldene Kette um den Hals. Suleika, Tochter der Sheherezade. Sie schaut sich um. Ein Seufzer entfährt ihr. „Allein! Endlich mal!“ Sie dreht sich noch einmal. „Und meine Mutter ist nirgends zu sehen. Wie schön!“ Sie tänzelt durch den dunklen Raum. Ein Schwarm silberner Funken folgt ihr, hellt kurz die Schatten auf, bevor das Licht wieder verglimmt. Vor der Tür zögert sie kurz, hebt dann die Hand und drückt die Klinke nach unten. Die Tür öffnet sich mit lautem Knarren. Sichtlich erschrocken lässt sie los, lauscht. Als sich nichts rührt, schlüpft sie durch den Spalt hinaus in den Flur.
Auch hier ist es dunkel, doch sie scheint den Weg zu kennen. Lautlos gleiten ihre nackten Füße über den steinernen Boden. Sie gelangt in den äußeren Kreuzgang, von dort hinaus in den Klostergarten und über eine kleine Pforte weiter in die Felder. Jetzt läuft sie, fliegt fast vor Eile. Und da ist es, ihr Ziel, auf einer kleinen Weide. Ein Feuer brennt unten am Bach, und sie hört Lachen, fröhliche Rufe, Jauchzen. Sie stürzt sich in die Runde der Tänzer, wird von den fröhlichen Gestalten ohne langes Fragen in die Arme genommen, schwingt mit ihnen im Reigen um das Feuer, lacht und jubelt und tanzt und lacht, bis sie außer Atem in die kräftigen Arme eines jungen Mannes sinkt, der zufällig gerade dasteht. Sie lacht auch ihn an und er küsst sie. Keine Regeln, keine Vorschriften, keine Wächter, keine Anstandsdame. Hier und heute ist sie frei, eine junge Frau, die das Leben genießen darf, für eine Stunde. Diesen Dorfburschen und Dorfmädchen ist es egal, dass sie die Tochter eines Sultans ist. Es kümmert niemanden, dass sie aus einem anderen Land stammt, einen anderen Glauben hat, anders aussieht. Sie ist jung, sie ist schön, sie will Spaß haben, das Leben genießen, frei sein, wie alle hier.
Und so holt sie tief Atem, springt zurück in den Reigen und wirbelt wieder um das Feuer, als ob es kein Morgen gäbe und kein Ende dieser Stunde.
II.
Aus dem Rauch bilden sich zwei Gestalten. Die eine mit zwei, die andere mit vier Beinen. Eine junge Frau und ihr … Wolfshund? Oder gar Wolf? Schwer zu sagen.
Die Frau, sie mag Raisa oder vielleicht auch Zoya heißen, schlendert zur Tür. Der sagen-wir-mal-Wolfshund folgt ihr auf Schritt und Tritt. Und schon sind sie draußen und wandern durch den nächtlichen Wald, einen Wald in einem Land, in dem ausnahmsweise mal kein Krieg herrscht. Hier gibt es niemanden, den sie fürchten müssten: keine Deserteure und keine Männer des Zaren, die hinter Deserteuren herjagen. Nur Raisa und ihren Wolfshund, ihren besten Freund und treuesten Begleiter, den sie von Welpenbeinen an aufgezogen hat. Ein Märchen, eine Illusion, und doch ist sie wahr … für diese eine Stunde.
III.
Erneut steigt Rauch aus einem der Bücher. Er verdichtet sich zu einem jungen Mann mit langen blonden Haaren. Staunend blickt er sich im Kellergewölbe um, während weitere fünf Rauchsäulen erscheinen. Auch diese verdichten sich zu menschlichen Gestalten, vier jungen Männern und einer Frau. Die sechs nicken sich verschwörerisch zu, dann entschwinden sie durch die Tür zu einer riesigen Wiese. Dort sind mehrere große Bühnen aufgebaut. Vor den Bühnen stehen tausende Menschen, zumeist schwarz gekleidet. „Einmal in Wacken spielen“, haucht die Gestalt, die als Erstes dem Buch entstieg. Da tönt auch schon eine Stimme von der Hauptbühne herüber: „Und jetzt heißt Flo Circus herzlich Willkommen!“
Die sechs Gestalten gehen auf die Bühne und werden von ihren Fans frenetisch bejubelt. „So könnte es immer sein“, seufzt Flo, der Sänger. Glückselig spielt die Band die nächsten zwei Stunden und genießt den Applaus von achtzigtausend Fans.
IV.
Feine Wirbel durchziehen den Nebel, winden sich zu Mustern, um anschließend auseinander zu stäuben. Die schmale Gestalt eines jungen Mannes wird sichtbar und festigt sich. Er trägt altertümliche Kleidung, ein weißes Hemd und eine weite braune Stoffhose. Sein Haar ist verschwitzt und auch auf seiner Stirn stehen feine Schweißtropfen. Irritiert blickt er sich im Raum um, dann erhellt ein breites Lächeln sein Gesicht. Ehrfürchtig streicht er mit der Hand über die Seiten des Buches, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Er wirft einen kurzen Blick über die Schulter, prüft, ob das Zimmer auch wirklich leer ist, dann setzt er sich auf den Stuhl davor und legt einen Zeigefinger auf die Buchstaben. Langsam bewegen sich seine Lippen, bilden stumm Wörter, dann Sätze und schließlich eine Geschichte. Sie lässt ihn das Wo und Wann vergessen und ganz in der fremden Welt aufgehen.
V.
Nebelschwaden dringen aus dem Buch – viele Nebelschwaden. Sie verdichten sich zu einem Drachen. Dieser quetscht sich so gut es geht durch die Tür, dann stürmt er hinaus ins Freie. Dort warten bereits weitere Drachen. Erfreut wirft er seinen Kopf in den Nacken und trötet laut. Einmal mit seinesgleichen über Wiesen rennen, Berghänge erstürmen und einfach einer unter vielen sein. Nicht der Außenseiter, die Bestie, vor der man sich in Acht nehmen muss. Nein, einfach die Freundschaft und Verbundenheit genießen und sich nach Herzenslust austoben, wenigstens für eine Stunde.
VI.
Der rauchige Faden wirbelt durch die Luft. Er wird zu langem glatten Haar, einer zierlichen Mädchengestalt, die aus der Mitte des Nichts nach einer Brille greift. Kurz vor dem Boden formt sich aus kleinen Wirbeln noch ein Geschöpf. Eine Eidechse? Nein. Es hat Kiemen – wie eine Kaulquappe und Paddelfüße. „Wasser!“, hustet die lurchförmige Rauchschwade und das Mädchen reagiert sofort. Als wüsste sie genau, wie der Zauber funktioniert, greift sie erneut in die grauen Schwaden und zieht einen wassergefüllten Eimer und ein Buch daraus hervor. Der Lurch krabbelt hinein und schaut erwartungsvoll über die Kante auf die anderen am Feuer.
„Hi, ich bin Fynn! Lurchi-Fynn-Legend. Der größte Rockmusiker, von dem ihr je hören werdet.“ Sie lächelt nur, lehnt sich an einen Baumstamm, beobachtet kurz die Szenerie. Die tanzenden Flammen lassen feine gerade parallel gezogene Narben an ihren Armen sichtbar werden. Nach einer Weile vertieft sie sich in ihr Buch. Der Lurch dreht den Kopf zu ihr und meint: „Dass ich noch einmal diese Gestalt annehmen würde – völlig verrückt. Aber irgendwie hatte ich gar nie bemerkt, wie cool es war, so als Riesenkaulquappe. Ich hoffe nur, du musst den Fluch nicht schon wieder auf die gleiche Weise brechen, wie letztes Mal, Leo.“
Die Angesprochene kichert. Danach sitzen sie wieder schweigend zusammen. Das Mädchen liest, der Lurch schwimmt seine Kreise. Eine Hand von ihr hängt im Wasser, damit er immer wieder einmal daran hochkrabbeln und alles beobachten kann.
VII.
Noch einmal steigt Rauch auf im Scriptorium, quillt aus den Seiten, verdichtet und verästelt sich zugleich. Eine Jungengestalt formt sich, ein hübsches Gesicht, ein strahlendes Lächeln, das keine Sorgen trüben könnten. Patrick reckt sich, Neugier blitzt in seinen Augen. Unbefangen erkundet er diese neue Welt, die sich vor ihm ausbreitet. Für eine Stunde ist ihm, als könnte er einfach er selbst sein, als könnte ihm nie etwas Schlimmes widerfahren, das sein Leben einschneidend verändert und sein Vertrauen nachhaltig erschüttert. Er genießt den Moment, mischt sich unter die anderen Gestalten, ohne sich Gedanken darum zu machen, was für eine Maske er ihnen präsentieren sollte. Er braucht keine Maske, muss sich nicht verstellen, denn er ist einfach glücklich.
Epilog
Die Nacht schreitet voran. Von fern ertönt der Schlag einer kleinen Glocke, verhallt langsam. Und noch einmal erhebt sich tintenfarbener Nebel aus dem Buch steigt hoch, wird zu einer allumfassenden Wolke. Sie quillt aus dem Buch, dem Scriptorium, dem ganzen Gebäude, wie eine Glucke, die sich erhebt, um nach ihren Küken zu suchen.
Und sie findet, was sie sucht. Der Tintennebel fällt herab, umschlingt seine Geschöpfe, macht sie wieder zu einem Teil seiner selbst. Dann zieht die Wolke sich zurück, schrumpft, verschwindet am Ende als feiner Faden zwischen den Pergamentseiten. Nur ein winzigkleines Tröpfchen bleibt zurück, an die Spitze der Schreibfeder geklammert, bereit, am nächsten Tag eine neue Geschichte zu inspirieren.
Am Horizont zieht in fahlrosa Streifen die Dämmerung herauf.
Märchenfrage
Wie viele Märchenadaptionen in Romanform sind bisher (Stand 2.7.19) aus den Reihen der Märchenspinnerei erschienen?
A. Dreizehn
B. Sechzehn
C. Neun
Die Figuren legen sich zur Ruh‘
Wenn euch die obigen kleinen Szenen gefallen haben, verraten wir euch doch auch gern, wo ihr mehr über diese Figuren erfahren könnt. Und zwar sind sie den folgenden Büchern entstiegen: „Herzenswünsche kommen teuer“ von Mira Lindorm, „Ein Mantel so rot“ von Barbara Schinko, „Das erste Lied“ von Susanne Eisele, „Der siebte Sohn“ von Julia Maar, „Kein Schnee im Hexenhaus“ von Susanne Eisele, „Der Axolotlkönig“ von Sylvia Rieß und „Träume voller Schatten“ von Christina Löw.
Solltet ihr die Geschichten bereits kennen und euch nun wundern, was genau sich hier zugetragen hat … Nun, wir dachten uns, wir lassen die Figuren diese eine Stunde einmal so verleben, wie sie es sich wünschen würden. Wie ihr Leben vielleicht aussehen würde, hätten sie nicht mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die sie in ihren Büchern heimsuchen. Einmal, was wäre wenn – zur Geisterstunde.
Wir hoffen, ihr hattet eine gute Zeit bei diesem kleinen märchenhaften Ausflug im Rahmen der Märchenrallye 2019 und wünschen euch weiter einen schönen Märchensommer!
Eure Märchenspinnerinnen